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Die Herkunft des Wortes ist höchst aufschlußreich. Im vorbiblischen Griechisch
hat es keinen herabsetzenden Klang. Es bedeutet zunächst: freie Wahl.
Entscheidung. Und es bedeutet das, wofür sich ein Mensch entscheiden kann, z.B.
eine Richtung, eine Schule, eine Strömung. So werden die großen philosophischen
Schulen, etwa die Stoiker und die Platoniker, als Häresien bezeichnet, so auch
die Hauptrichtungen des zeitgenössischen Judentums, Pharisäer, Sadducäer. Der Apostel Paulus aber lehnt es ausdrücklich und sehr betont ab, das junge
Christentum als ‘Häresie‘ zu bezeichnen (Apg.24, 14). Der Häretiker hat sich der herrschenden Meinung, den zeitbedingten
Selbstverständlichkeiten unterworfen. Er denkt, was man denkt. Was man zu meinen
hat, wenn man ernst genommen werden will. Er hält für gut, was man
anständigerweise für gut zu halten hat, wenn man nicht mit seiner Umwelt in mehr
oder weniger unangenehmer Weise kollidieren möchte. Er hat sich dem Diktat des
Kollektivs unterworfen, das sich ebenso in den Tagesmeinungen ausspricht wie in
den angeblich feststehenden Ergebnissen der Wissenschaft und ihren “ungedachten
Denkvoraussetzungen“. Häretisch ist, was im Zuge der Zeit liegt. Was dem mitgebrachten Selbstverständnis und Weltverständnis des jeweiligen Menschen entspricht. Unter diesen Gesichtspunkten ist jedenfalls die lutherische Lehre von der totalen Sündhaftigkeit gegen den Verdacht der Häresie so gut gesichert wie kaum eine andere; sie kann zu allen Zeiten nur höchst unpopulär sein. Aber auch die spezifisch katholischen Strukturen – Ordnung, Kirchenrecht, gegliederte Gemeinschaft, Amtsautorität – widerstreben zu allen Zeiten dem, was "Herr Omnes" gern hören möchte. Umgekehrt wird gerade hier deutlich, in welchem Maße die moderne Tendenz zur Nivellierung und mit ihr auch sehr viel pastorale Scheindemut einem häretischen Trend entspringt, der sich heute geradezu sintflutartig über die Welt ergießt, (wie umgekehrt auch die Angleichung an die feudalen Strukturen des Mittelalters und ebenso das großbürgerliche Pastorenideal früherer Zeiten häretische Angleichungen darstellten). Die Versuchung zur Häresie lauert in allem, was wir tun und reden; ihre Überwindung ist uns immer neu als Aufgabe gestellt und als Wunder des Heiligen Geistes verheißen. Helmut Echternach: Die Lutherische Erbsündenlehre - als ökumenische Verheißung |